In den Grenzbereich vordringen

In den Grenzbereich vordringen

Laufen macht dir vor allem dann Spaß, wenn du neue Bestzeiten aufstellst, einen Großteil des Feldes hinter dir lässt oder mehr Kilometer als die meisten anderen abspulst? Dann solltest du hier lesen, wie du auch die letzten zehn Prozent zur vollen Leistungsstärke aus deinem Körper holst. Und in unserer Bildergalerie zeigen wird dir, wie Deutschlands beste Spitzenläufer das schaffen.

von Christian Ermert

 

Das Herz hämmert. Der Puls rast. Du fragst dich, ob das noch Atmung ist oder schon Keuchen, was deine Lunge da vollführt. Sprechen kannst du schon seit vielen Kilometern nicht mehr. Und was ist eigentlich mit deinen Beinen los? Sind das schon Schmerzen oder das übliche, wohlige Anstrengungsgefühl beim Laufen?

 

Wenn du dich beim Lesen dieser Zeilen ganz genau an deinen letzten Wettkampf erinnerst, bist du hier richtig. Wenn du aber denkst, boah, nee lass mal, das braucht doch kein Mensch. Mir reicht es, dreimal pro Woche im Wohlfühlbereich durch den Park zu traben, dann musst du gar nicht erst weiter lesen.

Denn hier geht es um Grenzerfahrungen. Darum, wie man die letzten zehn Prozent seiner Leistungsfähigkeit erschließt. Wie man neue Bestzeiten läuft. Wie man es endlich schafft, vor seinem Lieblingsgegner im Ziel zu sein. Oder wie man seinen ersten ultralangen Lauf schafft.

 

Ziele wirklich erreichen

Wir reden hier aber nicht davon, welchen Trainingsplan du dir aussuchen musst. Hier geht's darum, wie du es schaffst, deine Ziele auch wirklich zu erreichen. Und darum, was du von Spitzensportlern lernen kannst.

 

Denn eins muss dir klar sein: Der Weg zur neuen Bestzeit, zum gefinishten Ultralauf oder zum Sieg über den Lieblingsgegner wird kein leichter sein. Wenn du das akzeptieren kannst, hast du schon den ersten Schritt getan. Und wenn du rundum gesund bist, kannst du mit der Vorbereitung beginnen.

 

Erfolgsfaktor Konsequenz

Denn die Mobilisierung deiner letzten zehn Prozent beginnt lange vor dem Wettkampf. Der wichtigste Erfolgsfaktor dabei ist Konsequenz, wie der Psychologe Dr. Michael Gutmann betont, der regelmäßig die deutsche Leichtathletik-Nationalmannschaft bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften betreut. „Wenn ich einen Trainingsplan habe, kann ich nicht die ganze Woche wegen Zeitmangels aufs Laufen verzichten und dann beim Training am Wochenende so tun, als hätte ich den Plan erfüllt", erklärt er. Wer sich Ziele setzt, muss sein Leben so organisieren, dass er tun kann, was nötig ist, um erfolgreich zu sein.

 

Entscheidend ist aber auch, dass die Zielsetzung stimmt. Welche Leistung traue ich mir zu? Ist es realistisch, den dafür notwendigen Trainingsaufwand zu betreiben? Und, ganz wichtig: Über welches Ergebnis würde ich mich am Ende wirklich freuen? Wenn du diese Fragen ehrlich beantwortet hast und das individuelle Verhältnis zwischen angepeiltem Ergebnis und der dafür nötigen Anstrengung stimmt, steht einer konsequenten Vorbereitung nichts mehr im Weg.

 

Vertrauen in die eigene Stärke

So wirst du mit hoher Wahrscheinlichkeit am Tag X mit großem Vertrauen in die eigene Stärke an der Startlinie stehen. Und wer fest an sich glaubt, lässt sich nicht verunsichern. Nicht von der Konkurrenz, die am Start immer so drahtig, so schnell und so gut ausgerüstet aussieht.

 

Und auch nicht von Problemen, die in den letzten Stunden vor dem Rennen immer auftreten können. Schlechtes Wetter? Ungewohntes Frühstück? Stau bei der Anreise? Lieblingsshirt vergessen? Erfolgreiche Läufer lassen sich von so etwas nicht negativ beeinflussen, sondern akzeptieren die Situation wie sie ist und machen das Beste daraus.

 

Den Umgang mit Krisen lernen: Positiv denken

Sie sind außerdem darauf vorbereitet, dass irgendwann der Punkt kommen wird, an dem es nicht mehr perfekt läuft. Wer im Grenzbereich der eigenen Leistungsfähigkeit unterwegs ist, muss mit Krisen umgehen können.

 

Das heißt: positiv denken. Klingt floskelhaft und banal, ist es aber nicht, wie Michael Gutmann erläutert: „Das Problem der Krise während eines Langstreckenlaufs ist bei gut trainierten Sportlern weniger der aktuelle körperliche Zustand, sondern vielmehr das, was der Kopf des Läufers daraus macht." Denn der spinnt den momentanen Zustand oft viel zu weit in die Zukunft.

 

Im Moment leben

Wenn es nach 28 Kilometern schon so schlecht läuft, wie werde ich mich dann erst bei Kilometer 35 fühlen? Diesen Gedanken kennen wohl die meisten Marathonläufer. Aber er ist falsch. Richtig ist: Grade läuft es zwar nicht gut, aber das ist nur eine Momentaufnahme. Zwei Kilometer weiter kann die Welt schon wieder ganz anders aussehen, und abgerechnet wird erst im Ziel.

 

Das gilt nicht nur beim Marathon, sondern auf allen Strecken. Und das wissen Spitzenathleten, wie Michael Gutmann beobachtet hat: „Wenn es denen vor oder während eines Wettkampfs momentan und subjektiv mal nicht gut geht, heißt das noch lange nicht, dass kein gutes Ergebnis rauskommen wird. Solange eine kleine Chance auf Erfolg da ist, wird weitergekämpft."

 

Voll da sein, wenn es zählt

Also: durchhalten, nie aufgeben und im Moment leben. Und im Marathon bei Kilometer 28 nicht an die möglichen Probleme bei Kilometer 35 denken, sondern an die Glücksgefühle im Ziel. Das beflügelt, während jeder negative Gedanke lähmt.

 

Denn das ist das Erfolgsgeheimnis der Spitzensportler. Wenn es zählt, sind sie voll da und blenden alles aus, was den Erfolg gefährden könnte. Und das kannst du auch. Beim nächsten Rennen nimmst du dann das Hämmern deines Herzens als Applaus wahr und die Schmerzen in den Beinen als Schwäche, die den Körper verlässt.

 

Die Tricks der Spitzenläufer:

 

André Pollmächer, bester deutscher Marathonläufer 2013

„Ich gehe im Training ganz bewusst fast nie ans absolute Limit. In mindestens 95 Prozent der Fälle komme ich vom Training nach Hause und habe noch Reserven. Ich fokussiere mich auf sehr wenige ausgewählte Trainingseinheiten und die Wettkämpfe, bei denen ich alles aus mir heraushole. An allen anderen Trainingstagen gilt es, Reserven aufzubauen: Nicht für den Erfolg im Training, sondern für den Erfolg im Wettkampf trainiert man.“
 

Sabrina Mockenhaupt, 38-malige Deutsche Meisterin

„Bei mir muss das Kopfkino laufen. In schweren Momenten pusht mich der Gedanke an die vielen harten Trainingskilometer und die harten Tempoeinheiten, die ich absolviert habe. Ich denke daran, dass jetzt der Moment gekommen ist, den Lohn für die Mühen abzuholen. Und daran, wie stolz ich sein werde, wenn ich mein Ziel erreicht habe. Ich stelle mir auch schon vor dem Lauf vor, mit was ich mich belohnen werde, wenn ich gekämpft habe, bis nichts mehr geht. Das kann eine Shopping-Tour sein oder einfach ein Eis. Und wenn mich vor dem Rennen irgendwelche Leute schon abgeschrieben haben, stelle ich mir genau diese Menschen vor, wenn es schwer wird. Dann denke ich: Jetzt erst recht, euch zeige ich es!“
 

Irina Mikitenko, schnellste deutsche Marathonläuferin 2013

„Wer im Wettkampf hundert Prozent seiner körperlichen Leistungsfähigkeit ausschöpfen will, muss ein Ziel vor Augen haben und darf nicht an sich selbst zweifeln. Das ist das Wichtigste. Man kann das auch trainieren. Es gibt auch bei mir immer mal Phasen, in denen ich nicht gut drauf bin. Gerade dann gebe ich alles, um das geplante Pensum dennoch zu schaffen. Das ist oft schwer, aber man muss Schwächephasen überwinden können, wenn man Erfolg haben will.“
 

Jan Fitschen, schnellster deutscher Marathonläufer des Jahres 2012

„Ich brauche beim Wettkampf ein festes, greifbares Ziel. Am besten einen Gegner, den ich einholen und überholen will. Wenn ich das geschafft habe, dann schnappe ich mir den nächsten. Läuft man „gegen die Uhr“, dann kommt es darauf an, einen Plan für die einzelnen Streckenabschnitte zu haben und Zwischenzeiten anzupeilen. Um aber an die letzten zehn Prozent Leistungsfähigkeit zu kommen, muss jeder Läufer seinen Kopf besiegen. In Schwächephasen denke ich daran, wie viel und wie hart ich für diesen einen Wettkampftrainiert habe. Und das alles dafür, damit ich genau jetzt, in der Krise, weiterkomme. Es geht immer mehr, als man denkt.“